In Australien gefeiert, in Wien vergessen (2024)

Hobart, Tasmanien, 2016: Als das Architektenduo Mat Hinds und Poppy Taylor den Auftrag bekommt, eine Erweiterung zu einem 1950er-Jahre-Haus in der Longview Avenue zu machen, ist ihnen bald klar, dass das Gebäude etwas Besonderes ist. Nicht nur wegen seines auffälligen Schmetterlingsdaches, der Kombination von Ziegeln, Klinker, Holz und Glasfenstern, die einen großartigen Blick über Hobart Bay ermöglichen. Die alten Pläne des Hauses sind mit Edith Emery, 1958, unterzeichnet. So begann eine spannende Spurensuche nach einer unbekannten Architektin.

Flucht aus Österreich

Edith Emery wird 1909 als Edith Wellspacher in Schottwien geboren. Die Zeitläufte verschlagen sie ausgerechnet nach Tasmanien. „Ich wäre überall hingegangen, um den Nazis zu entkommen“, schreibt sie in ihrer Autobiografie „A Twentieth’s Century Life“, „aber Australien wäre mir nie in den Sinn gekommen!“. Eigentlich wollte Wellspacher-Emery Ärztin werden. Sie studierte ab 1928 an der Universität Wien Medizin und promovierte 1934 als Gynäkologin.

In Australien gefeiert, in Wien vergessen (1)

Doch sie kann nicht lange praktizieren: Das Elisabeth-Spital kündigt sie wegen ihrer sozialistischen Einstellung und ihrer offenen Ablehnung des Nazi-Regimes. Ihr jüdischer Verlobter wird nach Dachau verschleppt. Im Frühjahr 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland, entschließt sich Wellspacher-Emery zur Emigration.

Mädchencollege in Tasmanien sucht Zeichenlehrerin

Ihr künstlerische Ausbildung kommt ihr dabei zugute. Mit 13 Jahren besuchte sie die Jugendkunstklasse bei Maler Franz Čižek; mit 15 die Kunstgewerbeschule Wien, wo sie u. a. bei Architekt Oskar Strnad Formenlehre studierte. So kann sie sich 1938 auf dieses Inserat bewerben: „Mädchencollege in Hobart/Tasmanien sucht sprachkundige, bei Franz Čižek ausgebildete Zeichenlehrerin“.

„Die Kunstgewerbeschule (heute: Angewandte) war seit ihrer Gründung 1867 von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Wien und weit darüber hinaus“, erklärt die Historikerin Barbara Sauer von der Universität Wien. Čižeks Bedeutung könne gar nicht überschätzt werden: „Es war revolutionär, dass er Kinder ab dem Alter von 3 Jahren unterrichtete. Mir fällt auch in unserer Gegenwart nichts Vergleichbares ein.“

Erste Architektin in Tasmanien

Auf dem Schiff nach Australien lernt Edith den britischen Kolonialbeamten John Emery kennen und lieben. Sie heiratet, wird bald schwanger. 1940 entbindet sie in Paris, wo ihre Schwester lebt, Sohn Mike. In Frankreich sperrt man sie als britische Staatsbürgerin in ein Internierungslager. 1942 darf sie ausreisen und gelangt auf abenteuerlichem Weg in den Sudan, wo ihr Mann arbeitet. Ihren zweiten Sohn Peter bringt sie in England zur Welt. 1948 übersiedelt Wellspacher-Emery dauerhaft nach Tasmanien. Weil es ihr nicht gelingt, die Approbation als Ärztin zu bekommen, studiert sie mit Anfang 40 Architektur.

In Australien gefeiert, in Wien vergessen (2)

„Ich habe mich mit grenzenlosem Enthusiasmus in die Architektur geworfen!“ schreibt Wellspacher-Emery in ihrer Autobiografie. Einmal pro Woche spazieren die Studierenden durch Hobart, um Gebäude zu zeichnen. Abermals kommt ihr die Ausbildung bei Čižek und Strnad zugute – die Zeichnungen bringen ihr große Bewunderung ein. Während des Studiums von 1951 bis 1957 arbeitet sie beim australischen Streamline-Moderne-Architekten Esmond Dorney.

Als erste professionell ausgebildete und selbstständig arbeitende Architektin in Tasmanien dringt Wellspacher-Emery in eine Männerdomäne ein. Das sei wohl mit ein Grund, weshalb sie in Vergessenheit geraten sei, vermutet Architekturprofessor Stuart King von der Universität Melbourne, der über Emery forscht und arbeitet.

Bauen für Frauen

Ihre Häuser sind lichtdurchflutet, mit großartigen Ausblicken auf das Meer. Sie habe nicht viele Häuser entworfen, aber interessanterweise vor allem für Frauen, erzählt King. Diese lernt sie in Kulturvereinen kennen, oder in der Umweltbewegung, in der sie sich in den 1960er Jahren engagiert. Für Frauen entwirft sie einfache, funktionale Gebäude, keine glamourösen Entwürfe, die man in Hochglanzzeitschriften finden würde, schildert der Architekturprofessor.

Assoziationen an Margarete Schütte-Lihotzky werden wach: Schütte-Lihotzky, ebenfalls Absolventin der Kunstgewerbeschule und Studentin von Strnad, erfand die ‚Frankfurter Küche‘, „die im sozialen Wohnbau nachhaltige Wirkung hatte“, so die Historikerin Barbara Sauer von der Universität Wien.

Architektur als soziales Anliegen

Es sei seiner Mutter wichtig gewesen, genau herauszufinden, welches Haus zu ihren Klientinnen passe, erinnert sich Sohn Mike Emery. Wellspacher-Emery habe weniger die Architektur als solche interessiert, als deren Einfluss auf die Menschen, meint auch Stuart King. Er erforscht das Werk der Architektin im Kontext der tasmanischen Moderne. Es sei ihr darum gegangen, mit ihren Bauten das Leben der Menschen zu verbessern.

In Australien gefeiert, in Wien vergessen (3)

Ganz im Sinne von Oskar Strnads „Wohnen für alle“. Den Sozialismus hat sie nach eigenen Worten nicht aus theoretischen Schriften gelernt, sondern von Besuchen in den Gemeindebauten des Roten Wien. Architektur sei für sie immer eine aufregende Mischung aus Kreativität und praktischer Anwendung, aus Fantasie und Wissenschaft gewesen, schreibt sie in ihrer Autobiografie.

Sendungshinweis

Edith Wellspacher-Emery widmet sich auch die „Universum History“-Doku „Krieg der Träume – Tanz auf dem Vulkan“: 2.8., 22.35 Uhr, ORF2.

Kunst und Reisen

Irgendwann habe seine Mutter beschlossen, alle 5 Jahre für ein Jahr auf Reisen zu gehen, erzählt Mike Emery. Dazu gehörte, dass sie ein Land besuchte, dessen Sprache sie noch nicht kannte, und diese vorweg studierte. So lernte sie zu Deutsch, Englisch und Französisch noch Spanisch, Russisch, Chinesisch und Japanisch dazu. Ihre Reiseeindrücke hielt sie in Aquarellen, Linol- und Holzschnitten, Ölbildern oder Tapisserien fest. Ihr Reisetagebuch „Encounter with Asia“ hat sie mit eigenen Illustrationen versehen. Sohn Peter Emery verwendet als Bildschirmschoner eine Slideshow von rund 1.000 Aquarellen seiner Mutter – Quelle vieler Erinnerungen.

Er sei erstaunt gewesen, als er erfahren habe, dass das Tasmanische Institute of Architects einen Architekturpreis nach seiner Mutter benennt, erinnert sich Mike Emery: „Ich war mir sicher, dass sie von der Architekturszene längst vergessen worden war!“

Späte Würdigung als Architektin

Stuart King bemüht sich intensiv, ihr einen gebührenden Platz im Architekturkanon des 20. Jahrhunderts in Tasmanien zu sichern, als bedeutende Vertreterin des modernistischen Kulturerbes Tasmaniens. 2023 holte der australische Fernsehsender ABC TV Wellspacher-Emerys Wohnhaus in Hobart im Beitrag Designing a Legacy vor den Vorhang. „Sie war keine Architektin, die an einen anderen Ort verpflanzt worden ist, sie war Architektin, weil sie verpflanzt worden ist“, resümiert King.

In Australien gefeiert, in Wien vergessen (4)

Unter den Nicht-Juden, die in der NS-Zeit aus rein politischen Gründen ins Exil gingen, seien Frauen eine verschwindende Minderheit gewesen, sagt Historikerin Barbara Sauer. Wellspacher-Emery hätte auch in Wien bleiben und in einer Privatpraxis als Ärztin arbeiten können, so Sauer, denn sie hatte ja ─ anders als die, die nach den Nürnberger Rassengesetzen als jüdisch galten ─ kein Berufsverbot. Dass sie dennoch emigriert ist, sei beachtlich, so Sauer. Ihre Anregung: Eine Ausstellung über die Architektin und Künstlerin in Österreich. Damit die 2004 verstorbene Wellspacher-Emery auch hier als bedeutende Architektin wiederentdeckt werden kann.

In Australien gefeiert, in Wien vergessen (2024)
Top Articles
The War of the Worlds (novel by H.G. Wells) | Summary, Analysis, Characters, & Facts
A Summary and Analysis of H. G. Wells’s The War of the Worlds
Serialwale
Find used motorbikes for sale on Auto Trader UK
Eversource Outage Map Cape Cod
Snohomish County Craigslist General For Sale
fir1 - Window-based FIR filter design
Mychart University Of Iowa Hospital
Bm1 Bus Tracker
Ticket To Paradise Showtimes Near Apple Cinemas Waterbury
Report: ACC could shorten grant of rights, offer incentives to keep FSU and Clemson
330-556-3579
Print With Me Discount Code
Ky Smartgov
Piezoni's North Attleboro
Skeleton Soldier Failed To Defend The Dungeon Wiki
Mommy Countdown Calendar™ with Pregnancy Gifts
Craigslist Parsippany Nj Rooms For Rent
Victoria Tortilla & Tamales Factory Menu
One Facing Life Maybe Crossword
Why Are People Getting Rid of Air Fryers?
Ltlv Las Vegas
Maxpreps Field Hockey
Lolalytics Aram
Costco Fuel Price
Craigslist Artesia Nm
Rubfinder
G 037 White Oblong Pill
LA ABUELA (2021) – „Sie wartet auf Dich“ | Filmkritik
Craigslist Apartments For Rent In New Bedford Ma
Vip Leauge.ic
Lucki White House Lyrics
Exzellente Überseelogistik „Made in Austria“
Brett Cooper Wikifeet
Bob Wright Yukon Accident
Village Medical 75Th And Thunderbird
Txfbins
Dogs For.sale Near Me
Ups Access Point Lockers
Joliet Herald News Obituary
Encore Atlanta Cheer Competition
Dora Saves Fairytale Land/Transcript
Hyundai Scottsdale
Flanner And Buchanan Obituaries Indianapolis
Brandy Renee Thothub
United States Trotting Association Website
Filmy4Wab Xyz
Find Such That The Following Matrix Is Singular.
Brake Masters 228
2425 Nimmo Pkwy Virginia Beach Virginia 23456 Tty 711
Esud2L
Latest Posts
Article information

Author: Greg O'Connell

Last Updated:

Views: 5829

Rating: 4.1 / 5 (62 voted)

Reviews: 93% of readers found this page helpful

Author information

Name: Greg O'Connell

Birthday: 1992-01-10

Address: Suite 517 2436 Jefferey Pass, Shanitaside, UT 27519

Phone: +2614651609714

Job: Education Developer

Hobby: Cooking, Gambling, Pottery, Shooting, Baseball, Singing, Snowboarding

Introduction: My name is Greg O'Connell, I am a delightful, colorful, talented, kind, lively, modern, tender person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.