Hobart, Tasmanien, 2016: Als das Architektenduo Mat Hinds und Poppy Taylor den Auftrag bekommt, eine Erweiterung zu einem 1950er-Jahre-Haus in der Longview Avenue zu machen, ist ihnen bald klar, dass das Gebäude etwas Besonderes ist. Nicht nur wegen seines auffälligen Schmetterlingsdaches, der Kombination von Ziegeln, Klinker, Holz und Glasfenstern, die einen großartigen Blick über Hobart Bay ermöglichen. Die alten Pläne des Hauses sind mit Edith Emery, 1958, unterzeichnet. So begann eine spannende Spurensuche nach einer unbekannten Architektin.
Flucht aus Österreich
Edith Emery wird 1909 als Edith Wellspacher in Schottwien geboren. Die Zeitläufte verschlagen sie ausgerechnet nach Tasmanien. „Ich wäre überall hingegangen, um den Nazis zu entkommen“, schreibt sie in ihrer Autobiografie „A Twentieth’s Century Life“, „aber Australien wäre mir nie in den Sinn gekommen!“. Eigentlich wollte Wellspacher-Emery Ärztin werden. Sie studierte ab 1928 an der Universität Wien Medizin und promovierte 1934 als Gynäkologin.
Doch sie kann nicht lange praktizieren: Das Elisabeth-Spital kündigt sie wegen ihrer sozialistischen Einstellung und ihrer offenen Ablehnung des Nazi-Regimes. Ihr jüdischer Verlobter wird nach Dachau verschleppt. Im Frühjahr 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland, entschließt sich Wellspacher-Emery zur Emigration.
Mädchencollege in Tasmanien sucht Zeichenlehrerin
Ihr künstlerische Ausbildung kommt ihr dabei zugute. Mit 13 Jahren besuchte sie die Jugendkunstklasse bei Maler Franz Čižek; mit 15 die Kunstgewerbeschule Wien, wo sie u. a. bei Architekt Oskar Strnad Formenlehre studierte. So kann sie sich 1938 auf dieses Inserat bewerben: „Mädchencollege in Hobart/Tasmanien sucht sprachkundige, bei Franz Čižek ausgebildete Zeichenlehrerin“.
„Die Kunstgewerbeschule (heute: Angewandte) war seit ihrer Gründung 1867 von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Wien und weit darüber hinaus“, erklärt die Historikerin Barbara Sauer von der Universität Wien. Čižeks Bedeutung könne gar nicht überschätzt werden: „Es war revolutionär, dass er Kinder ab dem Alter von 3 Jahren unterrichtete. Mir fällt auch in unserer Gegenwart nichts Vergleichbares ein.“
Erste Architektin in Tasmanien
Auf dem Schiff nach Australien lernt Edith den britischen Kolonialbeamten John Emery kennen und lieben. Sie heiratet, wird bald schwanger. 1940 entbindet sie in Paris, wo ihre Schwester lebt, Sohn Mike. In Frankreich sperrt man sie als britische Staatsbürgerin in ein Internierungslager. 1942 darf sie ausreisen und gelangt auf abenteuerlichem Weg in den Sudan, wo ihr Mann arbeitet. Ihren zweiten Sohn Peter bringt sie in England zur Welt. 1948 übersiedelt Wellspacher-Emery dauerhaft nach Tasmanien. Weil es ihr nicht gelingt, die Approbation als Ärztin zu bekommen, studiert sie mit Anfang 40 Architektur.
„Ich habe mich mit grenzenlosem Enthusiasmus in die Architektur geworfen!“ schreibt Wellspacher-Emery in ihrer Autobiografie. Einmal pro Woche spazieren die Studierenden durch Hobart, um Gebäude zu zeichnen. Abermals kommt ihr die Ausbildung bei Čižek und Strnad zugute – die Zeichnungen bringen ihr große Bewunderung ein. Während des Studiums von 1951 bis 1957 arbeitet sie beim australischen Streamline-Moderne-Architekten Esmond Dorney.
Als erste professionell ausgebildete und selbstständig arbeitende Architektin in Tasmanien dringt Wellspacher-Emery in eine Männerdomäne ein. Das sei wohl mit ein Grund, weshalb sie in Vergessenheit geraten sei, vermutet Architekturprofessor Stuart King von der Universität Melbourne, der über Emery forscht und arbeitet.
Bauen für Frauen
Ihre Häuser sind lichtdurchflutet, mit großartigen Ausblicken auf das Meer. Sie habe nicht viele Häuser entworfen, aber interessanterweise vor allem für Frauen, erzählt King. Diese lernt sie in Kulturvereinen kennen, oder in der Umweltbewegung, in der sie sich in den 1960er Jahren engagiert. Für Frauen entwirft sie einfache, funktionale Gebäude, keine glamourösen Entwürfe, die man in Hochglanzzeitschriften finden würde, schildert der Architekturprofessor.
Assoziationen an Margarete Schütte-Lihotzky werden wach: Schütte-Lihotzky, ebenfalls Absolventin der Kunstgewerbeschule und Studentin von Strnad, erfand die ‚Frankfurter Küche‘, „die im sozialen Wohnbau nachhaltige Wirkung hatte“, so die Historikerin Barbara Sauer von der Universität Wien.
Architektur als soziales Anliegen
Es sei seiner Mutter wichtig gewesen, genau herauszufinden, welches Haus zu ihren Klientinnen passe, erinnert sich Sohn Mike Emery. Wellspacher-Emery habe weniger die Architektur als solche interessiert, als deren Einfluss auf die Menschen, meint auch Stuart King. Er erforscht das Werk der Architektin im Kontext der tasmanischen Moderne. Es sei ihr darum gegangen, mit ihren Bauten das Leben der Menschen zu verbessern.
Ganz im Sinne von Oskar Strnads „Wohnen für alle“. Den Sozialismus hat sie nach eigenen Worten nicht aus theoretischen Schriften gelernt, sondern von Besuchen in den Gemeindebauten des Roten Wien. Architektur sei für sie immer eine aufregende Mischung aus Kreativität und praktischer Anwendung, aus Fantasie und Wissenschaft gewesen, schreibt sie in ihrer Autobiografie.
Sendungshinweis
Edith Wellspacher-Emery widmet sich auch die „Universum History“-Doku „Krieg der Träume – Tanz auf dem Vulkan“: 2.8., 22.35 Uhr, ORF2.
Kunst und Reisen
Irgendwann habe seine Mutter beschlossen, alle 5 Jahre für ein Jahr auf Reisen zu gehen, erzählt Mike Emery. Dazu gehörte, dass sie ein Land besuchte, dessen Sprache sie noch nicht kannte, und diese vorweg studierte. So lernte sie zu Deutsch, Englisch und Französisch noch Spanisch, Russisch, Chinesisch und Japanisch dazu. Ihre Reiseeindrücke hielt sie in Aquarellen, Linol- und Holzschnitten, Ölbildern oder Tapisserien fest. Ihr Reisetagebuch „Encounter with Asia“ hat sie mit eigenen Illustrationen versehen. Sohn Peter Emery verwendet als Bildschirmschoner eine Slideshow von rund 1.000 Aquarellen seiner Mutter – Quelle vieler Erinnerungen.
Er sei erstaunt gewesen, als er erfahren habe, dass das Tasmanische Institute of Architects einen Architekturpreis nach seiner Mutter benennt, erinnert sich Mike Emery: „Ich war mir sicher, dass sie von der Architekturszene längst vergessen worden war!“
Späte Würdigung als Architektin
Stuart King bemüht sich intensiv, ihr einen gebührenden Platz im Architekturkanon des 20. Jahrhunderts in Tasmanien zu sichern, als bedeutende Vertreterin des modernistischen Kulturerbes Tasmaniens. 2023 holte der australische Fernsehsender ABC TV Wellspacher-Emerys Wohnhaus in Hobart im Beitrag Designing a Legacy vor den Vorhang. „Sie war keine Architektin, die an einen anderen Ort verpflanzt worden ist, sie war Architektin, weil sie verpflanzt worden ist“, resümiert King.
Unter den Nicht-Juden, die in der NS-Zeit aus rein politischen Gründen ins Exil gingen, seien Frauen eine verschwindende Minderheit gewesen, sagt Historikerin Barbara Sauer. Wellspacher-Emery hätte auch in Wien bleiben und in einer Privatpraxis als Ärztin arbeiten können, so Sauer, denn sie hatte ja ─ anders als die, die nach den Nürnberger Rassengesetzen als jüdisch galten ─ kein Berufsverbot. Dass sie dennoch emigriert ist, sei beachtlich, so Sauer. Ihre Anregung: Eine Ausstellung über die Architektin und Künstlerin in Österreich. Damit die 2004 verstorbene Wellspacher-Emery auch hier als bedeutende Architektin wiederentdeckt werden kann.